Eine Geschichte von unserer Freundin Sylvia Lietsch aus Eibau

BuschwindröschenDie Boten des Frühlings sind da. Überall wagen sich grüne Spitzen aus der Erde, mit und ohne Blütenknospen. Mein Blick folgt einem Eichelhäher, der laut krächzend durch die Äste der noch kahlen Bäume fliegt. Ich verfolge ihn mit den Augen, bis er irgendwo am Berg im Wald verschwindet und nur noch sein heißerer Ruf zu mir herüber dringt. Meine suchenden Augen bleiben an einer Stelle des Waldbodens hängen. Eigentlich liegt hier überall ein dicker Teppich aus den im Herbst noch so bunt leuchtenden, aber nun braun gewordenen Blättern von Buche, Ahorn und den vielen Eichen. Doch zwischen dem unansehnlichen Braun sind weiße Tupfen. Neugierde treibt mich dorthin und so finde ich mich wenig später zwischen vielen Buschwindröschen wieder. Zarte weiße Blüten inmitten der Vergänglichkeit des Herbstes.

Vorsichtig setze ich mich auf einen heruntergebrochenen Ast, um die kleinen Pflanzen nicht zu zertreten. Ein Windhauch lässt sie erzittern und fast scheint es, als würden sie mir zum Gruße zunicken. Ganz plötzlich spüre ich eine seltsame Leichtigkeit und eine leise Stimme wispert: „Erinnerst du dich noch?“ War das Großmutters Stimme?

„Ja! Ich erinnere mich“, flüstere ich leise.
Und ich erinnere mich an die große Lichtung im Wald hinter dem Haus. An den weißen Teppich aus zarten weißen Blüten, die der Wind irgendwann wie Schneeflocken durch die Luft trug. Oft, wenn ich auf dieser Lichtung lag, sah ich Feen und Elfen tanzen und manchmal flog ich mit ihnen auf weißen Blütenblättern durch die Lüfte.

„Es ist ein ganz besonderer Platz. Er ist verzaubert. Nur deshalb kannst du die Naturwesen sehen und mit ihnen fliegen“, verriet die Oma. Sie pflückte ein paar Blüten, verstaute sie in einem kleinen Beutelchen, dass sie mir mit einer langen Kordel um den Hals hing. „Das vertreibt die Kälte und Schwere des Winters und auch die Krankheiten, die er uns dagelassen hat“, sagte sie dabei.

Buschwindröschen

Ich weiß noch genau, wie leicht ich mich danach fühlte, so als hätte mir tatsächlich jemand einen schweren Rucksack von den Schultern genommen.
„Leicht wie der Wind, zart wie die Frühlingsgöttin. Spüre die magische Kraft und verbinde dich mit den Ahnen und Geistwesen. Diese Welt braucht es mehr denn je“, höre ich wieder die leise Stimme der Großmutter. „Die Erde braucht Licht und Leichtigkeit. Löse die alten Themen, die Körper und Seele gefangen halten. Nicht die in der Welt, sondern deine eigenen. Und dann trag es weiter, damit es möglichst viele tun können.“

Gedankenverloren schaue ich auf die zarten weißen Blütenköpfchen vor mir.
„Ja, Oma, du hast so recht! So viele ungelöste Dramen in dieser Welt, so viel Wut und Hass, so viele Ängste.“
Die kleinen Blümchen scheinen zu nicken. Vor meinen Augen verwandelt sich der wogende Blütenteppich in ein strahlend weißes Licht.
„Wir sind zwar zart und zerbrechlich. Doch mit unseren Kräften des Windes und des Lichtes können wir helfen, für Erlösung und Erleichterung zu sorgen. Und, nur vereint sind wir so kraftvoll, dass wir dir unser weißes Licht zeigen können.“
Vereint und kraftvoll, denke ich. Hatte das nicht auch Großmutter immer gesagt?

Dabei fällt mir noch ein, dass sie Blüten pflückte, um daraus eine heilende Essenz herzustellen, eine Essenz die von allem befreit, was schadet.
„Von allem befreien, was schadet. Was Mutter Erde schadet. Was uns Menschen schadet“, murmle ich vor mich hin, bevor ich meinen Sitz verlasse. „Könnt ihr wirklich helfen?“

Noch immer sehe ich das helle Licht, nur ein paar wenige Blüten sind zu sehen, doch diese scheinen zustimmend zu nicken.

„Nimm unsere Hilfe an“, wispert es. Und erst als diese Blüten gepflückt sind, kehrt das Blütenmehr der Buschwindröschen zurück.

Fotos: Sylvia Lietsch

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