Eine Geschichte von unserer Freundin Sylvia Lietsch aus Eibau
Fast drei Wochen sind seit dem Treffen mit Tijja, der Schamanin vergangen. Seit diesem Tag haben sich meine Beschwerden verstärkt, Neue sind hinzugekommen. Noch immer sagen die Ärzte, ich sei organisch völlig gesund. Nun habe ich eine Überweisung zum Psychiater auf dem Tisch liegen. Als ob ich bekloppt wäre! Nein, da will ich wirklich nicht hin! Mir wird immer klarer, dass ich etwas ändern muss. Aber was?
Vor mir liegt der Zettel mit der Telefonnummer. 'Nicht einmal eine Visitenkarte hat sie mir gegeben!', denke ich. Mein Blick schweift über den Tisch, bleibt am Kalenderblatt für diese Woche hängen: „Wenn du etwas Neues willst, dann musst du tun, was du noch nie getan hast!“ Und als wäre das eine Aufforderung gewesen, wähle ich die Nummer. „Hallo Tijja! Es hat etwas länger gedauert.“ versuche ich zu entschuldigen.
„Hallo Gabi! Schön dich zu hören. Alles braucht eben seine Zeit!“, kommt es vom anderen Ende der Leitung.
Ich erzähle ihr vom letzten Arztbesuch, der Überweisung. „Es kann so nicht weitergehen! Ich weiß, was ich nicht mehr will! Für etwas Neues habe ich noch keine Idee. Und eigentlich habe ich auch Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten! Aber ich möchte trotzdem zu dir kommen.“
Ein paar Tage später bin ich bei Tijja. Auch jetzt empfängt sie mich nicht in wallenden Gewändern oder einem anderen mystischen Outfit. Sie trägt eine helle Hose, die bis zu den Waden reicht, ein kleines Kettchen am Fußgelenk, dazu einen beigefarbenen leichten Pullover und eine netzartige Jacke, die ich richtig schick finde. Ihr langes dunkles Haar ist nach oben gebunden. Aber: heute ist sie barfuß!
Sie führt mich in einen gemütlichen kleinen Raum, in dessen Mitte eine Liege steht. 'Die sieht fast wie ein Schaukelstuhl aus!', schießt es mir durch den Kopf. Das rote Leder erinnert mich an das rotgold der Blätter von unserem ersten Treffen. Kerzenlicht verbreitet Wärme und ein Gefühl von Geborgenheit. In einer Ecke stehen ein kleiner runder Tisch und zwei Stühle. Eine Kristallkaraffe mit Wasser glitzert im Kerzenlicht. Tijja greift nach dem Wasser: „Magst du?“ Ich nicke und sie reicht mir ein Glas. 'Das Wasser schmeckt wie aus einer frischen, sprudelnden Quelle.' denke ich erstaunt. „Setz dich!“, fordert mich Tijja auf.
„Der Wolf ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.“, beginne ich zu erzählen. „Ich habe vor Jahren auch mehre Male von zwei weißen Wölfen geträumt, die um ein Haus schleichen. Jedesmal, wenn ich zu ihnen geschaut habe, sind sie aber verschwunden. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.“
„Weißt du, was sie dir sagen wollten?“, fragt Tijja. Ich kann nur mit dem Kopf schütteln.
“Wölfe helfen, die eigene Kraft zu finden und vor allem der eigenen Kraft zu vertrauen.“, fährt sie dann fort. „Hast du schon etwas über Krafttiere gehört?“
„Ja, ich habe darüber gelesen.“, erwidere ich ihr. „Aber es fällt mir schwer daran zu glauben.“
„An Krafttiere muss man nicht glauben.“, erklärt Tijja. „Sie sind einfach da. So wie Engel, die man auch nicht sehen kann. Aber trotzdem glauben viele daran. Vielleicht ist dir ja schon aufgefallen, dass es Tiere gibt, die immer wieder auftauchen. Manchmal fragt man sich: Was war das denn? Vielleicht hat sich dir schon einmal ein Schmetterling oder eine Libelle auf die Hand gesetzt, oder du hast einen Vogel gesehen, den man sonst nur selten zu Gesicht bekommt. Vielleicht gab es in deinen Träumen auch noch andere Tiere außer den beiden Wölfen. Sie zeigen sich auf vielerlei Art“
„Um ehrlich zu sein, darauf habe ich noch nie geachtet.“ gebe ich beschämt zu. „Vielleicht habe ich einen ganzen Zoo um mich, und weiß es gar nicht!“
Tijja lacht. Doch dann wird sie ernst. „Jedes Tier hat eine Bedeutung, hat dir etwas zu sagen. Dich begleitet schon seit längerem eine Eule.“
Ich muss grinsen. „Vor ein paar Wochen habe ich von einem Freund einen Uhu geschenkt bekommen. Den hatte ich hinter ein paar Pflanzen ans Fenster verbannt, weil ich ihn so blöd fand. Vor ein paar Tagen habe ich ihn neben mein Telefon gestellt.“ Während ich das erzähle, habe ich das Gefühl, dass sich etwas auf meine linke Schulter legt. Unbewusst greife ich dahin. Dort ist nichts. Aber Tijja grinst. „Endlich wird sie wahrgenommen, deine Eule!“ Ich bekomme eine Gänsehaut. „Du hast bei unserem ersten Treffen von etwas dunklem in dir erzählt. Die Eule fordert dich auf, dich mit deinen Schatten auseinanderzusetzen. Du sollst die Dunkelheit und die Kraft, die darin wohnt, verstehen lernen. Im Dunkel und der Stille der Nacht werden Visionen und Ideen geboren. Im Spiegel der Finsternis begegnest du deinen Schatten, deinem zweiten Gesicht, deinen Gefühlen und Gedanken. Deswegen haben die meisten Menschen auch Angst vor der Dunkelheit. Es konfrontiert mit den eigenen Ängsten. Eulen sind die lautlosen Jäger der Nacht. Sie kennen und nutzen die Macht der Dunkelheit. Und es sind sehr weise und kluge Tiere, die ihren ureigensten Instinkten vertrauen.“
„Ich habe heute noch Angst, allein in der Dunkelheit unterwegs zu sein. In den dunklen Nächten im Winter habe ich immer eine kleine Lampe an.“, gebe ich kleinlaut zu. Das Etwas auf meiner Schulter scheint sich zu bewegen und sorgt erneut für eine Gänsehaut bei mir.
„Du scheinst jemand zu sein, der streng und unerbittlich mit sich selbst ist.“, setzt Tija ihre Rede, die ich unterbrochen habe, fort. „Jemand, der sich unverstanden und verloren fühlt aber sehr sensibel ist. Jemand, von dem immer erwartet wird, dass er da ist und hilft. Sich selbst in die letzte Reihe stellt, egal wie schlecht es ihm selbst auch gehen mag. Und der sich dann auch noch schuldig fühlt, wenn es eben mal nicht geht.“ Verlegen greife ich nach meinem Taschentuch. Diese Frau wird mir unheimlich. Dabei hat sie nur das ausgesprochen, was ich selber weiß, aber nicht wahrhaben will. Sie scheint tief in mein Innerstes schauen zu können. Ich verkneife mir die Frage, woher sie all das weiß. Tijja blickt mir in die Augen. Ich kann diesem Blick nicht standhalten. „Alles in Ordnung?“, fragt sie?
Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß es grade nicht. Mir ist sehr eigenartig zumute. Ich kann es nicht einmal beschreiben. Angst, Wut, Trauer, - keine Ahnung. Am liebsten würde ich gehen.“
„Wir können hier abbrechen. Das ist kein Problem.“ erwidert Tijja mit einem freundlichen mitfühlenden Blick. Ich nehme noch einen großen Schluck von dem Wasser, welches immer noch schmeckt, als hätte ich es soeben aus einer frischen Quelle ins Glas geschöpft.
„Vielleicht brauche ich auch nur eine kleine Pause und etwas frische Luft.“, überlege ich laut und schaue zum Fenster hinaus.
„Gut, dann bringe ich dich erst einmal hinaus.“ Schnell schlüpft Tijja in ein paar Schuhe, die ich bisher nicht wahrgenommen habe, reicht mir meine Jacke. Wirft sie mich jetzt hinaus? Tijja lächelt und als wenn sie Gedanken lesen könnte, sagt sie. „Es ist Herbst und ich glaube, ohne Jacke ziemlich kühl da draußen.“ Sie bringt mich an die Tür. „Ein paar Minuten von hier ist ein Park mit einem kleinen Teich. Es dürfte um diese Zeit auch ziemlich ruhig dort sein. Und sag Bescheid, wenn du die Sitzung dann doch abbrechen willst.“, bittet sie mich.
Im Park setze ich mich auf eine Bank nahe am Teich. Auf dem Wasser spiegeln sich die Wolken, das Schilf und die Büsche vom anderen Ufer. Enten schwimmen umher und bringen das Spiegelbild immer wieder durcheinander. Auch auf der Wiese vor mir, überall rundherum lautstarkes Geschnatter. Ich schaue dem bunten Treiben zu. Und plötzlich ist es, als könnte ich die Enten verstehen: „Ob sie endlich einmal das Gesetz von Ursache und Wirkung begreift und aufhört an den Symptomen herumzudoktern? Aufhört, ihre Kräfte zu überschätzen und endlich wieder an sich denkt?“ „Mit den Erfahrungen, die sie bisher gemacht hat! Wie soll sie denn wieder vertrauen und mitbekommen, dass sie jemand so sieht, wie sie ist? Das zarte, sensible Persönchen“ „Sie hat doch nie gelernt, Emotionen von anderen an sich abperlen zu lassen, wie wir die Wassertropfen an unserem Gefieder. Sie hat nicht gelernt, zu sein wie wir: Füreinander dazu sein, aber doch Grenzen zu setzen, sich nicht für andere aufopfern oder aufgeben.“
Ein paar Kinder kommen laut schreiend an den Teich gelaufen, holen mich in die Wirklichkeit zurück. Die Enten flüchten mit lautem Schnattern in die Mitte des Teiches.
'Tijja hat mich so wahrgenommen, wie ich bin.', denke ich. 'Ich sollte ihr vertrauen. Egal, was noch kommt.' Entschlossen stehe, ja fast springe ich auf, laufe zurück. Tijja empfängt mich mit einem Lächeln und so selbstverständlich, als hätte sie gewusst, dass ich zurückkommen werde. „Wieder besser?“ fragt sie. Ich nicke. „Und ich würde gern weitermachen.“ Das Erlebnis mit den Enten verschweige ich – vorerst.
Als ich wieder den kleinen Raum betrete, sehe ich neben der Liege eine große Trommel mit zwei schwarz-weißen Federn.
'Oh, jetzt wird es ernst!', denke ich. Habe ich doch bei dem Workshop, der mich neugierig gemacht hat, bereits erlebt, das schamanische Heilung mit Trommelklängen unterstützt wird. Wie wird es wohl sein, wenn sie nur für mich die Trommel schlägt?