Ich folgte einer fernen und doch so nahen Stimme
Am Tage meines Besuches, von dem ich hier Berichte, hatte die Dämmerung bereits begonnen, sie hüllte die Wiesen in einen dunklen Schleier.
Plötzlich hielt ich inne und folgte einer fernen und doch so nahen Stimme. Ich wandte mich einem Baum unmittelbar neben dem Weg zu.
Es war eine große Esche, die genau im nord-südlich verlaufenden landschaftlichen Kräftestrom stand. Ich lehnte mich an ihrem Stamm. Und während ich mit meiner Stirn noch die Rinde des Baumes spürte, geriet ich in einen tiefen ruhenden Zustand. Die Umgebung entschwant zunehmend meiner Wahrnehmung und meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich einzig auf den Baum.
Es war ein helles weiß-bläuliches Wesen
Plötzlich tauchte eine kleine gläserne Gestalt vor meinem inneren Auge auf. Es war ein helles weiß-bläuliches Wesen von zarter und schöner Gestalt. Seine hellen transparenten Flügel trugen es schwebend vor meinem Auge und es begann zu kommunizieren. Mit freundlichen Gesten lud es mich ein, ihm zu folgen. Ich überlegte noch, wie ich dies bewerkstelligen sollte, als eine Leichtigkeit über mich kam und ich scheinbar meinen Körper an Ort und Stelle zurückließ. Meine Aufmerksamkeit folgte nun dem Weg der seltsamen Wesens und bald begann ich förmlich zu fliegen.
Ich stellte mich auf einen schmerzhaften Aufprall am Stamm ein
Nachdem wir ein paar Bögen um den Baum geflogen waren, ging es geradewegs auf ihn zu. Zunächst hatte ich Bedenken, wie das ausgehen sollte, und stellte mich auf einen schmerzhaften Aufprall am Stamm ein. Im gleichen Moment flogen wir jedoch in atemberaubender Geschwindigkeit direkt durch seine Rinde hindurch und in der Mitte des Stammes aufwärts. Ich vermutete, dass das Wesen eine Elfe sein musste.
Ich war förmlich Teil dieses Baumes
Sie kannte sich hier sehr gut aus und offensichtlich gehörte sie zu diesem Baum. Sie schien ihm mit ihrer Lebensaufgabe verbunden, und ich bemerkte meine Gewissheit, dass sie sich im Alltag höchstens ein paar Meter von ihm entfernte. bei ihrem Flug war ihre Fürsorge für den Baum durch ihre Gestik und Mimik spürbar. Sie schien sich in ihrem Alltag liebevoll um die Organisation seiner Lebensprozesse und etliche andere Dinge zu kümmern. Sie kam mir wie eine beweglicher Teil des Lebewesens Baum vor. Auf seltsame Weise fühle ich mich nun selbst wie der Baum, ja ich war förmlich Teil dieses Baumes. In diesem Moment konnte ich fühlen, wie es ist, Baum zu sein. Es fühlt sich erhaben an und zugleich bescheiden.
Spontan empfand ich eine tiefe Ehrfurcht vor den Bäumen
Der Raum war von innen her lichtdurchdrungen. Ich erkannte im Stamm des Baumes eine senkrechte pulsierende Lichtachse. Ihr expansierendes Licht umhüllte uns sanft und vermittelte ein friedvolles Gefühl. Deutlich war die Verwurzelung zur Erde zu spüren. Die gesamte Atmosphäre verkörperte Lebenskraft und Geborgenheit und spiegelte eine unermessliche Weisheit. Der Baum schien auf geheimnisvolle Weise Wissen von den Prozessen des Lebens zu besitzen - über Geburt und Vergänglichkeit und über den Rhythmus der Zeiten. Spontan empfand ich eine tiefe Ehrfurcht vor den Bäumen. Besonders beeindruckte mich die lichtvolle Einstrahlung aus dem Kosmos, was offensichtlich die senkrechte Lichtachse ermöglichte.
Die Weisheit kosmischer Intelligenz
Es zeigte sich mir wie Licht aus einem ewigen Raum, durchdrungen von pulsierender Liebe. Gemeinsam empfingen wir diesen lichtvollen Strom durch die Blätter und Äste des Baumes. Mein Wesen wurde von diesem Licht wie von einem Nektar durchströmt, wie mit einem sanften Rieseln. Dies wurde begleitet von Leichtigkeit und einem Gefühl von Ausdehnung. Die lichte Kraft floss anschließend durch den Stamm und meine Füße in den Erdenkörper. Lebensströme ergossen sich aus dem Kosmos durch den Baum in die Tiefe der Erde. Und die Weisheit kosmischer Intelligenz schien durch die Existenz der lebendigen Wesen Bäume ein Zugangstor zu Mutter Erde zu finden.
Mittler zwischen geistigen und physischen Welten
Ich erahnte so den vermutlichen Grund der Verehrung, die Naturvölker den Bäumen entgegenbringen. Denn Bäume scheinen mir als Kanal für kosmische Kräfte zu dienen, als Mittler zwischen geistigen und physischen Welten.
Plötzlich geriet ich wieder in Bewegung, rasend schnell flogen wir erneut durch die Gefilde des Baumes. Es ging durch endlos scheinende Räume und Röhren mit Verzweigungen und verschiedenen Stimmungen und Lichtverhältnissen. Dann ging es aus dem Stamm hinaus. Dort vernahm ich auch wieder das Gefühl meines physischen Körpers, der immer noch an den Baum gelehnt war.
Die Elfe schwebte vor mir in der Luft
Die Elfe schwebte vor mir in der Luft und schaute mir wissend in die Augen. Ich bedankte mich bei ihr und dem Baum für die wundervolle Erfahrung. Dann verabschiedeten wir uns und ich setzte meinen Spaziergang mit vielen Gedanken an den Baum und die Elfe fort.
Mit diesem Erlebnis hatte sich meine Beziehung zu Bäumen grundlegend geändert. Ich weiß nun, dass Bäume eine hohe Wesensart besitzen - je älter sie sind, desto kraftvoller ist sie. Und dass sie still und beständig ihre wichtige und großzügige Arbeit tun, um der Erde vom Licht des Lebens und der Weisheit zu bringen, Tag für Tag.
Aus dem Buch "Vom Wesen der Bäume" von Guntram Stoehr, AT Verlag 2012, ISBN 978-3-03800-618-3, Seite 21 ff.